Berlin hat sich schon immer Großes vorgenommen. In Zukunft könnte die Metropole dem spanischen Santiago de Compostela vielleicht sogar als Pilgerhochburg den Rang ablaufen.
Der Berliner Bischof Christian Stäblein eröffnete am 1. August 2021 in der Kirche St. Jacobi in Berlin-Kreuzberg gemeinsam mit einem jüdischen und einem muslimischen Geistlichen das Pilgerzentrum St. Jacobi im Herzen der Stadt, das als sogenannter Dritter Ort von der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg (EKBO) gefördert wird. Initiatoren sind der Pilger-Begleiter und Prädikant Thomas Knoll und der Pfarrer der Gemeinde Christoph Heil. Sie wollen damit der alten christlichen Tradition auch in der Hauptstadt ein Zuhause geben.
Pilgern ist ein „Mega-Trend“, der seit Jahren anhält, sagt Andrea Richter, Spiritualitätsbeauftragte der EKBO. Neu aber ist pilgern von, nach und sogar in Berlin. Einmal im Monat kann man zum Beispiel unter Anleitung von Thomas Knoll schweigend durch den Großen Tiergarten gehen. Zuerst ginge es noch um die Fragen „zwischen Homeoffice und Arbeitsschluss“, sagt Knoll. „Und ab dem Potsdamer Platz gehen wir ins Schweigen.“ Der sportliche Mittfünfziger ist von Beruf Sachverständiger für Baum- und Bodenschutz. Er ist so naturverbunden, dass ihm seine Frau ein T-Shirt mit der Aufschrift „Regenwurm Experte“ geschenkt hat, erzählt er lachend. Über den Kirchlichen Fernunterricht studierte er Theologie. Um seine Leidenschaft mit anderen zu teilen, hat er sich in die evangelische St. Jacobi-Gemeinde in Kreuzberg umgemeinden lassen, die Jakobus, den Schutzpatron der Pilger, schon im Namen trägt.

Pilgern gegen Krebs
„Alle Pilger sind eingeladen, in Pilgerbekleidung mit Rucksack, Stab und Muschel zu erscheinen und zu Beginn mit in die Kirche einzuziehen“, heißt es in der Einladung zum Festgottesdienst. Und so sammeln sich vor der Kirchentür in der Oranienstraße an die 50 Pilgerinnen und Pilger, die Jakobsmuschel baumelnd am Rucksack, den Wanderstab in der Hand und praktische Schuhe an den Füßen.
An ihren T-Shirts erkennt man die fröhliche Frauengruppe „Pilgern gegen Krebs“. „Alle hier im grünen T-Shirt sind durch die Krebstherapie gegangen“, sagt Roswitha Limpack, Chefin der Truppe, die im August auf dem südlichen Jakobsweg von Frankfurt/O. nach Berlin pilgern will. „Durch die 150 Kilometer, die wir gehen, wollen wir zeigen, dass wir noch etwas können!“ Täglich sind 20 Kilometer zu bewältigen. Es sei vor allem die Langsamkeit, die sie neu gelernt habe und spirituelle Erfahrungen, betont die ehemalige Langstreckenläuferin. Sie nennt das neue Pilgerzentrum „eine Heimstatt“, wo sie sich den Austausch mit gestandenen Pilgernden erhofft: „Und sei es nur: Welches Waschmittel nehme ich mit oder wie gehe ich minimalistisch mit meinem Rucksack um.“
„Gott verwandelt auf dem Weg“
Es ist ein feierlicher Moment, als die bunte Menge aus Geistlichen, Pilgerinnen, Gemeinde und Besuchern mit Musik in die Kirche einzieht. Der Duft von Weihrauch erfüllt den Raum des Gotteshauses.
Bischof Christian Stäblein durchschneidet gemeinsam mit Marion von Brechan, Referentin für Tourismuspastoral, Jonathan Marcus von der Synagoge Fraenkelufer und Imam Mohamed El-Kateb von der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee das symbolische rote Band vor dem Altar und ruft: „Das Pilgerzentrum ist eröffnet!“ An seiner Seite spricht Pfarrerin Andrea Richter das Einweihungsgebet.
„Eine pilgernde Predigt“ nennt Christian Stäblein seine Rede, während der es in der Kirche so still ist, dass man eine Stecknadel fallen hören kann. Der Bischof outet sich als „Bewegungsmensch“ und es gelingt ihm, die Sehnsucht der Anwesenden in Worte zu fassen: „Sich selbst und Gott finden, das ist pilgern“, sagt er. Und: „Irgendwann wirst du gegangen!“ Egal ob nach einer diagnostizierten Krankheit oder nach einer zerbrochenen Beziehung: „An der Jakobsmuschel ankommen ist nicht, die Austernperle hingestellt bekommen. Gott verwandelt auf dem Weg.“

Wie man Pilgerherbergs-Mutter wird
„Es war so schön, mal wieder eine volle Kirche zu erleben“, freut sich Gemeindesekretärin Mariola Maxelon beim anschließenden Empfang im Garten von St. Jacobi. Verschiedene Initiativen wie die „Pilgerkapelle Stralsund“ oder „Biopilgern“ in der Prignitz haben ihre Infotische aufgebaut. Als ein kurzer Schauer über die Festgesellschaft niedergeht, holen die Pilgerinnen und Pilger routiniert ihre Regenumhänge hervor.
Sie sei mit Herz und Seele Pilgerin, sagt Silvia Scheffler, Mitglied im Präsidium der Jakobusgesellschaft. Gelassen steht sie nach dem Regen mit einem Getränk an einem der Tische. Die Jakobsmuschel prangt auf ihrer Hutkrempe. Auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela habe sie sich einst gewünscht, eine Pilgerherberge in Sieversdorf zu gründen, einem Ortsteil von Jacobsdorf (Mark). Hier betreibt ihre Familie eine Orgelwerkstatt auf dem Gutshof. Auf dem Weg von Frankfurt (Oder) nach Berlin und von dort nach Leipzig oder Bad Wilsnack könne sie ein paar Betten und Matratzen anbieten – und Willkommenskultur. Beruflich begleitet sie als Trauerrednerin Menschen auf ihrem letzten Weg.
Schlüssel für Garten und Kirche
Die gefragtesten Gesprächspartner im Garten sind natürlich Christoph Heil und Thomas Knoll. Mit dem neu eröffneten Zentrum wollen sie interessierten Menschen eine Möglichkeit zum Vernetzen geben. Angedacht sei für die Zukunft auch eine Pilgerherberge, sagt Heil. Was man jetzt schon neben dem Besuch des Pilger-Stammtisches tun könne: „Herkommen und sich einen Stempel in den Pilgerpass drücken lassen, einen Schlüssel bekommen für Garten und Kirche und mit dem Pfarrer oder dem Prädikanten sprechen.“ Geplant seien Vorträge über Pilgerreisen im In- und Ausland oder über ganz praktische Fragen „Wie geht man pilgern?“, erklärt Heil, der auch Pilgerbeauftragter des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte ist.
„Einfach mal loslaufen!“
Andrea Richter begleitet als Spiritualitätsbeauftragte der EKBO die Entstehung des Zentrums von Anfang an. Die Idee habe durch Corona einen Schub bekommen: „Menschen haben gemerkt, dass sie umdenken müssen, was den Urlaub betrifft und dass Wege buchstäblich vor der Haustür beginnen.“
Die Pfarrerin hat nicht nur die Pilgerbegleiter/innen-Ausbildung auf den Weg gebracht, sondern auch den „Bernhardspfad“ rund um Lehnin ins Leben gerufen und Pilgertouren durch Israel geleitet. Im Herbst möchte sie wieder selbst zu einer spirituellen Wanderung aufbrechen. Wohin sollte man pilgern, wenn man das zum ersten Mal tut? Sie empfiehlt den Spaziergang mit Thomas Knoll im Tiergarten oder: „Einfach mal loszulaufen!“
Erschienen in Die Kirche – Wochenzeitung für Berlin und Brandenburg, 8.8.2021
„Es braucht Mut, um sich uns anzuschließen“ – Ibn Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit feiert Geburtstag (Die Kirche – Wochenzeitung für Berlin und Brandenburg, 2020)
Die Feierabend-Schwestern – Evangelische Diakonissen stellen ihr Leben in den Dienst von Gott und am Nächsten (Deutschlandfunk Kultur, Religionen, 2020)